Schneewittchen

Vergleichen ist tödlich

 

Es war einmal mitten im Winter, und die Schneeflocken fielen wie Federn vom Himmel herab. Da saß eine Königin an einem Fenster, das einen Rahmen von schwarzem Ebenholz hatte, und nähte. Und wie sie so nähte und nach dem Schnee aufblickte, stach sie sich mit der Nadel in den Finger, und es fielen drei Tropfen Blut in den Schnee. Und weil das Rote im weißen Schnee so schön aussah, dachte sie bei sich: Hätt' ich ein Kind, so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarz wie das Holz an dem Rahmen! Bald darauf bekam sie ein Töchterlein, das war so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz und ward darum Schneewittchen (Schneeweißchen) genannt. Und wie das Kind geboren war, starb die Königin.

 

Über ein Jahr nahm sich der König eine andere Gemahlin. Es war eine schöne Frau, aber sie war stolz und übermütig und konnte nicht leiden, daß sie an Schönheit von jemand sollte übertroffen werden. Sie hatte einen wunderbaren Spiegel, wenn sie vor den trat und sich darin beschaute, sprach sie: "Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?" so antwortete der Spiegel: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land." Da war sie zufrieden, denn sie wußte, daß der Spiegel die Wahrheit sagte. Schneewittchen aber wuchs heran und wurde immer schöner, und als es sieben Jahre alt war, war es so schön, wie der klare Tag und schöner als die Königin selbst. Als diese einmal ihren Spiegel fragte: "Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?" so antwortete er: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, Aber Schneewittchen ist tausendmal schöner als Ihr."

Da erschrak die Königin und ward gelb und grün vor Neid.

 

Von Stund an, wenn sie Schneewittchen erblickte, kehrte sich ihr das Herz im Leibe herum - so haßte sie das Mädchen. Und der Neid und Hochmut wuchsen wie ein Unkraut in ihrem Herzen immer höher, daß sie Tag und Nacht keine Ruhe mehr hatte. Da rief sie einen Jäger und sprach: "Bring das Kind hinaus in den Wald, ich will's nicht mehr vor meinen Augen sehen. Du sollst es töten und mir Lunge und Leber zum Wahrzeichen mitbringen."

Der Jäger gehorchte und führte es hinaus, und als er den Hirschfänger gezogen hatte und Schneewittchens unschuldiges Herz durchbohren wollte, fing es an zu weinen und sprach: "Ach, lieber Jäger, laß mir mein Leben! Ich will in den wilden Wald laufen und nimmermehr wieder heimkommen." Und weil es gar so schön war, hatte der Jäger Mitleiden und sprach: "So lauf hin, du armes Kind!" Die wilden Tiere werden dich bald gefressen haben, dachte er, und doch war's ihm, als wäre ein Stein von seinem Herzen gewälzt, weil er es nicht zu töten brauchte. Und als gerade ein junger Frischling dahergesprungen kam, stach er ihn ab, nahm Lunge und Leber heraus und brachte sie als Wahrzeichen der Königin mit. Der Koch mußte sie in Salz kochen, und das boshafte Weib aß sie auf und meinte, sie hätte Schneewittchens Lunge und Leber gegessen.

Nun war das arme Kind in dem großen Wald mutterseelenallein, und ward ihm so angst, daß es alle Blätter an den Bäumen ansah und nicht wußte, wie es sich helfen sollte. Da fing es an zu laufen und lief über die spitzen Steine und durch die Dornen, und die wilden Tiere sprangen an ihm vorbei, aber sie taten ihm nichts. Es lief, so lange nur die Füße noch fortkonnten, bis es bald Abend werden wollte.

 

Da sah es ein kleines Häuschen und ging hinein, sich zu ruhen. In dem Häuschen war alles klein, aber so zierlich und reinlich, daß es nicht zu sagen ist. Da stand ein weißgedecktes Tischlein mit sieben kleinen Tellern, jedes Tellerlein mit seinem Löffelein, ferner sieben Messerlein und Gäblelein und sieben Becherlein. An der Wand waren sieben Bettlein nebeneinander aufgestellt und schneeweiße Laken darüber gedeckt. Schneewittchen, weil es so hungrig und durstig war, aß von jedem Tellerlein ein wenig Gemüs' und Brot und trank aus jedem Becherlein einen Tropfen Wein; denn es wollte nicht einem alles wegnehmen. Hernach, weil es so müde war, legte es sich in ein Bettchen, aber keins paßte; das eine war zu lang, das andere zu kurz, bis endlich das siebente recht war; und darin blieb es liegen, befahl sich Gott und schlief ein.

Als es ganz dunkel geworden war, kamen die Herren von dem Häuslein, das waren die sieben Zwerge, die in den Bergen nach Erz hackten und gruben. Sie zündeten ihre sieben Lichtlein an, und wie es nun hell im Häuslein ward, sahen sie, daß jemand darin gesessen war, denn es stand nicht alles so in der Ordnung, wie sie es verlassen hatten. Der erste sprach: "Wer hat auf meinem Stühlchen gesessen?' Der zweite: "Wer hat von meinem Tellerchen gegessen?" Der dritte: "Wer hat von meinem Brötchen genommen?" Der vierte: "Wer hat von meinem Gemüschen gegessen?" Der fünfte: "Wer hat mit meinem Gäbelchen gestochen?" Der sechste: "Wer hat mit meinem Messerchen geschnitten?" Der siebente: "Wer hat aus meinem Becherlein Getrunken?" Dann sah sich der erste um und sah, daß auf seinem Bett eine kleine Delle war, da sprach er: "Wer hat in mein Bettchen getreten?" Die anderen kamen gelaufen und riefen: "In meinem hat auch jemand Gelegen!" Der siebente aber, als er in sein Bett sah, erblickte Schneewittchen, das lag darin und schlief.

 

Nun rief er die andern, die kamen herbeigelaufen und schrien vor Verwunderung, holten ihre sieben Lichtlein und beleuchteten Schneewittchen. "Ei, du mein Gott! Ei, du mein Gott!" riefen sie, "was ist das Kind so schön!" Und hatten so große Freude, daß sie es nicht aufweckten, sondern im Bettlein fortschlafen ließen. Der siebente Zwerg aber schlief bei seinen Gesellen, bei jedem eine Stunde, da war die Nacht herum.

 

Als es Morgen war, erwachte Schneewittchen, und wie es die sieben Zwerge sah, erschrak es. Sie waren aber freundlich und fragten: "Wie heißt du?" - "Ich heiße Schneewittchen," antwortete es. "Wie bist du in unser Haus gekommen?" sprachen weiter die Zwerge. Da erzählte es ihnen, daß seine Stiefmutter es hätte wollen umbringen lassen, der Jäger hätte ihm aber das Leben geschenkt, und da wär' es gelaufen den ganzen Tag, bis es endlich ihr Häuslein gefunden hätte. Die Zwerge sprachen: "Willst du unsern Haushalt versehen, kochen, betten, waschen, nähen und stricken, und willst du alles ordentlich und reinlich halten, so kannst du bei uns bleiben, und es soll dir an nichts fehlen." - "Jaa, sagte Schneewittchen, "von Herzen gern!" und blieb bei ihnen. Es hielt ihnen das Haus in Ordnung.

 

Morgens gingen sie in die Berge und suchten Erz und Gold, abends kamen sie wieder, und da mußte ihr Essen bereit sein. Den ganzen Tag über war das Mädchen allein; da warnten es die guten Zwerglein und sprachen: "Hüte dich vor deiner Stiefmutter, die wird bald wissen, daß du hier bist; laß ja niemand herein!

 

Die Königin aber, nachdem sie Schneewittchens Lunge und Leber glaubte gegessen zu haben, dachte nicht anders, als sie wäre wieder die Erste und Allerschönste, trat vor ihren Spiegel und sprach: "Spieglein, Spieglein. an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?"

Da antwortete der Spiegel: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber Schneewittchen über den Bergen Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr." Da erschrak sie, denn sie wußte, daß der Spiegel keine Unwahrheit sprach, und merkte, daß der Jäger sie betrogen hatte und Schneewittchen noch am Leben war.

 

Und da sann und sann sie aufs neue, wie sie es umbringen wollte; denn so lange sie nicht die Schönste war im ganzen Land, ließ ihr der Neid keine Ruhe. Und als sie sich endlich etwas ausgedacht hatte, färbte sie sich das Gesicht und kleidete sich wie eine alte Krämerin und war ganz unkenntlich. In dieser Gestalt ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: "Schöne Ware feil! feil!" Schneewittchen guckte zum Fenster hinaus und rief: "Guten Tag, liebe Frau! Was habt Ihr zu verkaufen?" - "Gute Ware," antwortete sie, "Schnürriemen von allen Farben," und holte einen hervor, der aus bunter Seide geflochten war. Die ehrliche Frau kann ich hereinlassen, dachte Schneewittchen, riegelte die Türe auf und kaufte sich den hübschen Schnürriemen. "Kind," sprach die Alte, "wie du aussiehst! Komm, ich will dich einmal ordentlich schnüren." Schneewittchen hatte kein Arg, stellte sich vor sie und ließ sich mit dem neuen Schnürriemen schnüren. Aber die Alte schnürte geschwind und schnürte so fest, daß dem Schneewittchen der Atem verging und es für tot hinfiel. "Nun bist du die Schönste gewesen," sprach sie und eilte hinaus.

 

Nicht lange darauf, zur Abendzeit, kamen die sieben Zwerge nach Haus; aber wie erschraken sie, als sie ihr liebes Schneewittchen auf der Erde liegen sahen, und es regte und bewegte sich nicht, als wäre es tot. Sie hoben es in die Höhe, und weil sie sahen, daß es zu fest geschnürt war, schnitten sie den Schnürriemen entzwei; da fing es an ein wenig zu atmen und ward nach und nach wieder lebendig. Als die Zwerge hörten, was geschehen war, sprachen sie: "Die alte Krämerfrau war niemand als die gottlose Königin. Hüte dich und laß keinen Menschen herein, wenn wir nicht bei dir sind!"

 

Das böse Weib aber, als es nach Haus gekommen war, ging vor den Spiegel und fragte: "Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?" Da antwortete er wie sonst: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, Aber Schneewittchen über den Bergen
Bei den sieben Zwergen Ist noch tausendmal schöner als Ihr."

Als sie das hörte, lief ihr alles Blut zum Herzen, so erschrak sie, 'denn sie sah wohl, daß Schneewittchen wieder lebendig geworden war. "Nun aber," sprach sie," will ich etwas aussinnen, das dich zugrunde richten soll," und mit Hexenkünsten, die sie verstand, machte sie einen giftigen Kamm.

 

Dann verkleidete sie sich und nahm die Gestalt eines anderen alten Weibes an. So ging sie hin über die sieben Berge zu den sieben Zwergen, klopfte an die Türe und rief: "Gute Ware feil! feil!" Schneewittchen schaute heraus und sprach: "Geht nur weiter, ich darf niemand hereinlassen!" - "Das Ansehen wird dir doch erlaubt sein," sprach die Alte, zog den giftigen Kamm heraus und hielt ihn in die Höhe. Da gefiel er dem Kinde so gut, daß es sich betören ließ und die Türe öffnete. Als sie des Kaufs einig waren, sprach die Alte: "Nun will ich dich einmal ordentlich kämmen." Das arme Schneewittchen dachte an nichts, ließ die Alte gewähren, aber kaum hatte sie den Kamm in die Haare gesteckt, als das Gift darin wirkte und das Mädchen ohne Besinnung niederfiel. "Du Ausbund von Schönheit," sprach das boshafte Weib, "jetzt ist's um dich geschehen," und ging fort.

 

Zum Glück aber war es bald Abend, wo die sieben Zwerglein nach Haus kamen. Als sie Schneewittchen wie tot auf der Erde liegen sahen, hatten sie gleich die Stiefmutter in Verdacht, suchten nach und fanden den giftigen Kamm. Und kaum hatten sie ihn herausgezogen, so kam Schneewittchen wieder zu sich und erzählte, was vorgegangen war. Da warnten sie es noch einmal, auf seiner Hut zu sein und niemand die Türe zu öffnen. Die Königin stellte sich daheim vor den Spiegel und sprach:

"Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?" Da antwortete er wie vorher: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier, Aber Schneewittchen über den Bergen Bei den sieben Zwergen
Ist noch tausendmal schöner als Ihr."

Als sie den Spiegel so reden hörte, zitterte und bebte sie vor Zorn. ,Schneewittchen soll sterben," rief sie, "und wenn es mein eigenes Leben kostet!" Darauf ging sie in eine ganz verborgene, einsame Kammer, wo niemand hinkam, und machte da einen giftigen, giftigen Apfel. Äußerlich sah er schön aus, weiß mit roten Backen, daß jeder, der ihn erblickte, Lust danach bekam, aber wer ein Stückchen davon aß, der mußte sterben.

 

Als der Apfel fertig war, färbte sie sich das Gesicht und verkleidete sich in eine Bauersfrau, und so ging sie über die sieben Berge zu den sieben Zwergen. Sie klopfte an. Schneewittchen streckte den Kopf zum Fenster heraus und sprach: " Ich darf keinen Menschen einlassen, die sieben Zwerge haben mir's verboten!" - "Mir auch recht," antwortete die Bäuerin, "meine Äpfel will ich schon loswerden. Da, einen will ich dir schenken." - "Nein," sprach Schneewittchen, "ich darf nichts annehmen!" - "Fürchtest du dich vor Gift?" sprach die Alte, "siehst du, da schneide ich den Apfel in zwei Teile; den roten Backen iß, den weißen will ich essen " Der Apfel war aber so künstlich gemacht, daß der rote Backen allein vergiftet war. Schneewittchen lusterte den schönen Apfel an, und als es sah, daß die Bäuerin davon aß, so konnte es nicht länger widerstehen, streckte die Hand hinaus und nahm die giftige Hälfte. Kaum aber hatte es einen Bissen davon im Mund, so fiel es tot zur Erde nieder. Da betrachtete es die Königin mit grausigen Blicken und lachte überlaut und sprach: "Weiß wie Schnee, rot wie Blut, schwarz wie Ebenholz! Diesmal können dich die Zwerge nicht wieder erwecken." Und als sie daheim den Spiegel befragte: "Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?" so antwortete er endlich: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste im Land." Da hatte ihr neidisches Herz Ruhe, so gut ein neidisches Herz Ruhe haben kann.


Die Zwerglein, wie sie abends nach Haus kamen, fanden Schneewittchen auf der Erde liegen, und es ging kein Atem mehr aus seinem Mund, und es war tot. Sie hoben es auf suchten, ob sie was Giftiges fänden, schnürten es auf, kämmten ihm die Haare, wuschen es mit Wasser und Wein, aber es half alles nichts; das liebe Kind war tot und blieb tot. Sie legten es auf eine Bahre und setzten sich alle siebene daran und beweinten es und weinten drei Tage lang. Da wollten sie es begraben, aber es sah noch so frisch aus wie ein lebender Mensch und hatte noch seine schönen, roten Backen. Sie sprachen: "Das können wir nicht in die schwarze Erde versenken," und ließen einen durchsichtigen Sarg von Glas machen, daß man es von allen Seiten sehen konnte, legten es hinein und schrieben mit goldenen Buchstaben seinen Namen darauf und daß es eine Königstochter wäre. Dann setzten sie den Sarg hinaus auf den Berg, und einer von ihnen blieb immer dabei und bewachte ihn. Und die Tiere kamen auch und beweinten Schneewittchen, erst eine Eule dann ein Rabe. zuletzt ein Täubchen.

 

Nun lag Schneewittchen lange, lange Zeit in dem Sarg und verweste nicht, sondern sah aus, als wenn es schliefe, denn es war noch so weiß wie Schnee, so rot wie Blut und so schwarzhaarig wie Ebenholz. Es geschah aber, daß ein Königssohn in den Wald geriet und zu dem Zwergenhaus kam, da zu übernachten. Er sah auf dem Berg den Sarg und das schöne Schneewittchen darin und las, was mit goldenen Buchstaben darauf geschrieben war. Da sprach er zu den Zwergen: "Laßt mir den Sarg, ich will euch geben, was ihr dafür haben wollt " Aber die Zwerge antworteten: "Wir geben ihn nicht für alles Gold in der Welt." Da sprach er: "So schenkt mir ihn, denn ich kann nicht leben, ohne Schneewittchen zu sehen, ich will es ehren und hochachten wie mein Liebstes." Wie er so sprach, empfanden die guten Zwerglein Mitleid mit ihm und gaben ihm den Sarg.

 

Der Königssohn ließ ihn nun von seinen Dienern auf den Schultern forttragen. Da geschah es, daß sie über einen Strauch stolperten, und von dem Schüttern fuhr der giftige Apfelgrütz, den Schneewittchen abgebissen hatte, aus dem Hals. Und nicht lange, so öffnete es die Augen, hob den Deckel vom Sarg in die Höhe und richtete sich auf und war wieder lebendig. "Ach Gott, wo bin ich?" rief es. Der Königssohn sagte voll Freude: "Du bist bei mir," und erzählte, was sich zugetragen hatte, und sprach: "Ich habe dich lieber als alles auf der Welt; komm mit mir in meines Vaters Schloß, du sollst meine Gemahlin werden." Da war ihm Schneewittchen gut und ging mit ihm, und ihre Hochzeit ward mit großer Pracht und Herrlichkeit angeordnet. Zu dem Feste wurde aber auch Schneewittchens gottlose Stiefmutter eingeladen. Wie sie sich nun mit schönen Kleidern angetan hatte, trat sie vor den Spiegel und sprach:

"Spieglein, Spieglein an der Wand, Wer ist die Schönste im ganzen Land?" Der Spiegel antwortete: "Frau Königin, Ihr seid die Schönste hier,
Aber die junge Königin ist noch tausendmal schöner als Ihr."

Da stieß das böse Weib einen Fluch aus, und ward ihr so angst, so angst, daß sie sich nicht zu lassen wußte. Sie wollte zuerst gar nicht auf die Hochzeit kommen, doch ließ es ihr keine Ruhe, sie mußte fort und die junge Königin sehen. Und wie sie hineintrat, erkannte sie Schneewittchen, und vor Angst und Schrecken stand sie da und konnte sich nicht regen. Aber es waren schon eiserne Pantoffel über Kohlenfeuer gestellt und wurden mit Zangen hereingetragen und vor sie hingestellt. Da mußte sie in die rotglühenden Schuhe treten und so lange tanzen, bis sie tot zur Erde fiel.

 

Handlungsschritte:

 

Status quo:         Der Wunsch der Mutter, Schneewittchens Geburt

Aufbruch:            Die neue Königin kommt

Herzensprüfung: Der Jäger und seine Entscheidung

Kampf und Sieg: Schneewittchen Flucht ins schützende Zwergenhaus

Rückweg:           Die Attacken der „Krämerin“

Heimkehr:           Heimholung und „Apfelspuck“

Hochzeit:            Hochzeit

 

Deutung 1

 

Es ist Winter, eine Zeit der Kraftlosigkeit und des Abschieds. Die Mutter wünscht sich für ihr noch ungeborenes Kind es möge „heiler Natur“ sein.

 

Weiß, rot und schwarz sind die Farben der Weiblichen Dreifaltigkeit, der drei keltischen Nornen, der Symbolgestalten des sich immer wieder erneuernden Lebens. Der Anfang, die Jungfrau (weiß), das volle Leben, die Frau im gebärfähigen Alter (rot) und das Ende, die Alte (schwarz). (Repräsentiert wurden die drei Gestalten später durch die Hl. Margareta, Hl. Katarina und Hl. Barbara, die zu Neujahr segnend von Haus zu Haus gingen. Später, christianisiert wurden sie zu Kaspar, Melchior und Balthasar, als Weißer, Indianer und Mohr, die umfassende Menschheit repräsentierend. Heutzutage ist der alte Hintergrund vergessen und es wird C+M+B aufs Haus geschrieben (Christus mansionem benedicat = Christus segne dieses Haus.

 

Die alte Überzeugungswelt stirbt und das herrschende Denk-System (König) bekommt einen neuen Zeitgeist als Partner, die neue Frau. Sie übernimmt die Macht. Vom „König“ ist nun nie mehr die Rede, daher gibt’s starke Emotion aber keine Nachdenk-Kontrolle.

 

Die neue Königin repräsentiert Schönheit, Leistung, Wettbewerb. Die eigene Position muss ständig in Zweifel (zwei-fel) gezogen werden (Spiegel = 2 x ich). Der Vergleich bringt Unruhe, Missgunst und verlangt nach einem Ausgleich. Statt den Ausgleich bei sich zu suchen und Vergleich und Selbst-Zweifel beiseite zu legen, wird die Ursache im Außen bekämpft. Das Feindbild muss vernichtet werden, dieser unverschämt zufriedenen Prinzessin muss die Lunge und Leber aus dem Leib gerissen werden, um es sich selber einzuverleiben, damit endlich Ruhe ist.

 

Der Jäger (eine untertänige Tatkraft) erfüllt den Auftrag, aber nur teilweise. Die Königin bekommt, was ihr zusteht, die entsprechenden Organe eines Schweines (Leben und Motivation).

 

Die heranwachsende Unschuld, aus dem Herrscher-Palast vertrieben, flüchtet in die Welt „des Kleinen Mannes“. Dort ist die Versorgung gesichert, da herrscht Kleingeist, täglich harte Arbeit, da ist man geerdet. So lange sie sich da einfügen mag, kann sie bleiben. Naja, eine Zeitlang geht das gut, weil es eine Entwicklungsphase ist, die geschützt vor sich gehen darf.

 

Doch das herrschende Prinzip hat das Weiterleben registriert und will sich diese Macht zunutze machen. Verkleidet als „Krämerin“ bietet sie der Jungen einen „Handel“ an. Sie soll die ihr Anvertrauten doch an die kurze Leine nehmen (Schnürband), ihre Arbeitskraft steigern, mehr Leistung einfordern. Da bleibt der Prinzessin der Atem weg. Der gewohnte Alltag holt sie wieder zu sich.

Beim nächsten Mal argumentiert die Königin mit der Kontrolle der allgemeinen Denkweise (Kamm ordnet die Haare = reglementiert das Bewusstsein). Die Prinzessin kann das nicht, es geht ihr „völlig gegen den Strich“. Dadurch fällt sie in „Ohn-Macht“.

 

Beim dritten Mal ist es die Verführung zum Genuss des vergifteten Apfels. Apfel ist das Symbol für die göttliche Einzigartigkeit. Die Vergiftung besteht in der nur halben Wahrheit. Was denn so göttlich sein soll an jedem Einzelnen?! Womit wir wieder beim Vergleichen und Beurteilen sind. Vergleiche: Genesis: Das Essen der Früchte vom „Baum der Erkenntnis von Gut und Böse“ vertreibt aus dem Paradies. Das Genießen der Früchte vom „Baum des Lebens“ („Es ist wie es ist!“ Erich Fried) brächte die paradiesische Akzeptanz zurück.

 

Der vergiftete Apfel hat in eine weiße und eine rote Hälfte, weist also schon auf die verurteilende Dualität hin. Das naive Schneewittchen kann dieses spaltende Gift (noch) nicht erkennen.

 

Die Prinzessin verfällt in eine Schockstarre, sie kann nichts tun für ihr Volk, man kommt nicht an sie heran, sie vegetiert leblos dahin. Die Kleinen Leute, die ihren Fleiß und ihre Ehrlichkeit zu schätzen gelernt haben, schützen sie vor schädlichen Außeneinflüssen und bewahren ihr ein empathisches Andenken.

Als die Zeit erfüllt ist, taucht eine neue kraftvolle Energie auf. Eine innere oder äußere Partnerschaft verheißt neues Glück.

 

(„Glück als Erlösung vom Vergleich, ist eben deshalb Götterraum genannt worden, weil es auch von der Rivalität befreit, vom Neid – und in diesem Sinne den Glücklichen vom Wettstreit erlöst: gott-ähnlich macht“ „Spielregeln des Glücks v. Gertud Höhler)

 

Die beschützenden Kleinen Leute erkennen die ehrliche Absicht und entlassen Schneewittchen aus ihrer Obhut. Auf dem Weg in die neue Existenz kann sie den letzten Rest vom verabreichten Gift ausspucken. Nun steht einer glanzvollen Zukunft nichts mehr im Wege.

 

Die böse Königin bekommt die Entwicklung mit und verpasst die letzte Chance, sich auf sich selbst zu besinnen. Sie stirbt den Rauschtod der Süchtigen.  

 

Wer immer mehr, besser, größer, schneller mitmachen muss, findet nie zum Ziel. In „rotglühenden Schuhen zu tanzen“, bis man leblos zu Boden fällt, ist die Konsequenz dieser Lebensweise. Die Gier frisst die Lebensqualität auf. „Das Bessere ist der Feind des Guten!“ Es muss nicht immer „besser“ sein. Dankbarkeit über das Vorhandene wäre das Heilmittel!

 

Hätte die Königin in den Spiegel geschaut und gesagt: „Spieglein, Spieglein an der Wand, Ich bin die Schönste (weil Einzige) in meinem (Be-)Reich!“, sie wäre nicht so böse geworden. Sie hätte allen Schneewittchens ihrer Umgebung deren Entwicklung gönnen können.

Wahrscheinlich hätte sie am neuen Königshof eine angemessene Position bekommen, vielleicht sogar als geliebte Großmutter der kleinen Prinzen und Prinzessinnen.

 

Deutung II

Konsumzwang contra Zufriedenheit

 

Schneewittchen: ICH BIN schneeweiß = blendend rein, unbefleckt.

Sie steht unter dem Segen der „Großen Mutter“ (dem reinen SEIN) und ist damit geschützt vor den gierigen Spielregeln der Konsumgesellschaft.

 

Die böse Königin orientiert sich an der spiegelverkehrten Schein-wahrheit. Sie ver-zwei-felt an einem luziferischen Anteil (ICH BIN mein Wissen und Können) und dem ahrimanischen Anteil (ICH BIN mein Besitz).

 

Die heranwachsende Prinzessin: Ein Lebensgefühl, das mit der „Quelle“ verbunden ist, dem „Genug“.

 

Königin= Vom inneren Ungenügen der Gierigen, dem Wachstumszwang und Konsumrausch, wird diese „wunderschöne“ Einstellung als Bedrohung, als Ärgernis, empfunden. Die zukünftige Herrscherin wird vom Schloss, vom systemgeschützten Machtzentrum verjagt. „Das wird ihr Leben (Lunge=Atem=Leben) ändern und von nun an wird sie mitspielen (Leber = Ansporn=Energie). Dann haben wir sie für uns vereinnahmt“.

 

Doch die zufriedene Nachhaltigkeit vermisst den Konsumrausch nicht, sie wendet sich dem täglichen Kleinkram (Zwerge) zu. Die Beherrscher des Systems sind solche „Schweine“ (Schweinelunge und -leber) und versuchen es nun auf andere perfide Arten.

 

Auf unterschiedlichen Ebenen wird ein „Handel“ vorgeschlagen:  

·        Macht durch Kontrolle (künstliche Engpässe = Schnürriemen),

·        Macht durch mentale Manipulation (Halbwahrheiten = Kamm),

·        Macht durch Rufmord, Mobbing, (zersetzende Zwei-fel = halber Giftapfel).

 

Vgl. Versuchungen Jesu in der Wüste durch Satan (Lk, 4):

·        Steine in Brot verwandeln = Hungerproblem beherrschen

·        Das alles will ich dir geben = Weltherrschaft

·        Stürze dich hinab, Engel werden dich auffangen = Egomanie (Trump?)

…wenn du niederfällst und mich anbetest.

 

Alle drei Versuchungen können die reine Seele nicht umstimmen.

(„Macht brauchst du nur, wenn du Böses im Sinn hast. Für alles andere reicht Liebe.“ Charlie Chaplin)

 

Sie verbleibt, scheinbar (Mund-) tot, in der Transparenz ihres Daseins, bis sich im Außen ein anderer Zeitgeist einstellt. Die zufriedene Nachhaltigkeit distanziert sich deutlich von den alten Einstellungen (spuckt den giftigen Apfelteil aus). Eine neue gesunde Lebensweise kann sich ausbreiten.

 

 

Das rauschsüchtige Wachstumssystem mit seinen miesen Tricks hat sich totgelaufen.