Das Tränenseil
Besiegte Selbstzweifel
Es war einmal ein Waisenknabe, der war so verlassen wie ein aus dem Nest gefallenes Vogeljunges, und deshalb nannten ihn die Leute Nestling. Glaubt mir, es ist kein leichtes Leben, allein auf der Welt zu stehen, ohne Vater und ohne Mutter und nie ein gutes Wort zu hören.
Nestling besaß nichts als eine alte, baufällige Hütte an einem Bach. Wenn das Hochwasser kam, trat der Bach über seine Ufer und wurde so reißend, dass man ich nicht durchwaten konnte. Ich will sieben große Steine aus den Bergen holen. Die lege ich durch den Bach, damit ich auch bei Hochwasser ans andere Ufer gehen kann, dachte Nestling eines Tages, als es ihm zu viel wurde. Wochenlang ging er jeden Tag in die Berge und suchte nach passenden Steinen, bis er eines Tages auch den siebenten gefunden hatte.
Der ist gerade richtig, dachte er und wollte den Stein anheben. Der war aber ungeheuer schwer, und nur mit der letzten Kraft gelang es Nestling, ihn von der Stelle zu wälzen. Da aber staunte er: An der Stelle, wo der Stein gelegen hatte, war ein Ei versteckt, weißer als der weißeste Schnee.
„Das ist ja ein Ei wie aus dem Märchen vom Vogel Greif“, rief der Bursche. „Ich will es mitnehmen und der Henne unterlegen.“ Wie gesagt, so getan. Siebenundzwanzig Tage später wollte Nestling seinen Augen nicht trauen: Das Ei war gesprungen, und aus der Schale kroch ein winziges Mädchen. Es hüpfte aus dem Ei und wuchs und wuchs, bis eine schöne Jungfrau vor dem überraschten Burschen stand. „Wo kommst du denn her?“ fragte Nestling.
„Zum Erklären ist jetzt keine Zeit“, antwortete die Schöne. „Ich bin eine Fee und gekommen, um dir beim Bau der Brücke zu helfen. Du kannst doch nicht einfach Steine ins Wasser legen. Eine solche Brücke wäre viel zu unbequem.“
Und die Fee schob ihre Ärmel zurück und begann die Steine ins Wasser zu legen. Dann schnitt sie sich von sieben Fingern die Nägel ab, senkte den Kopf und flüsterte einen Spruch. Im selben Augenblick verwandelten sich die sieben Nägel in sieben steinerne Platten, lege sie über die Steine und die -Brücke war fertig.
Nestling gefiel die Fee über alle Maßen, und so fragte er schüchtern, ob sie seine Frau werden wollte.
„Deshalb bin ich ja gekommen“, lachte die Fee und reichte dem Jüngling ihre Hand. Von jenem Tag an lebten die Fee und Nestling zusammen in der kleinen Hütte und waren glücklich und zufrieden.
Ihre Liebe aber war einem Bauern ein Dorn im Auge: Er konnte es nicht ausstehen, wenn jemand glücklich war.
Eines Tages ging Nestling in die Stadt auf den Markt. Auf dem Rückweg hielt ihn der neidische Bauer auf, der sich entschlossen hatte, Nestling zu beseitigen.
„Die Brücke ist dir ja gelungen“, meinte er. „Wichtiger aber ist, dass du den Drachen in den -bergen tötest.“
„Welchen Drachen?“ fragte Nestling verwundert.
„Komm mit! Ich zeig dir, wo er haust“, sagte der Bauer. „Ich hole nur noch schnell ein Seil und einen Korb.“
Bald war er zurück, und die beiden brachen auf. Lange gingen sie. Es wurde schon langsam dunkel, und zwischen den Wolken schwamm der bleiche Mond. Plötzlich gähnte vor ihren Füßen ein schwarzes Loch in der Erde.
„Wir sind an Ort und Stelle“, sagte der Bauer. „Hier haust der Drache, der die Menschen plagt. Jetzt schläft er. Setz dich in den Korb. Ich lasse dich hinab, und du schlägst den Unhold tot.“ Der Bauer band den Korb an das Seil. Nestling setzte sich hinein, und eh er sich besinnen konnte, flog er schon in die Finsternis hinab. Es wurde ihm angst und bange, wenn er an den schrecklichen Drachen dachte, und er drückte seine Augen zu.
Endlich stieß der Korb auf festen Boden, und Nestling schaute sich verwundert um. Er befand sich in einem weiten Saal mit goldenen Säulen. Die Wände waren mit durchsichtigen Steinen ausgelegt, und überall standen Truhen voller Perlen und Diamanten.
„Bauer“, rief Nestling freudig. „Hier ist kein Drache. Dafür habe ich einen Schatz gefunden.“
„Pack schnell den Schatz in den Korb“, ließ der Bauer sich von oben vernehmen. „Ich ziehe zuerst den Schatz hoch und dann dich.“
Der Bursche warf viele Kostbarkeiten in den Korb und rief dem Bauern zu, er solle das Seil hochziehen. Der Korb schwebte in die Höhe, und Nestling sah, wie oben eine Hand den Korb mit dem wertvollen Schatz wegzog. Er wartete, dass der Korb wieder herunterkäme, und rief hinauf: „Bist du fertig, Bauer?“
Aber niemand antwortete. Den Burschen packte das Grauen. Wollte der Bauer sich vielleicht aus dem Staub machen und ihn hier unten lassen, einem elenden Hungertod preisgegeben? Noch einmal rief er, aber kein Laut drang zu ihm herab. Durch den schmalen Schacht sah er nichts als ein paar Sterne unerreichbar hoch über sich.
Nestling begann verzweifelt zu weinen. Der böse Bauer hatte ihn verraten.
Zu Hause wartete inzwischen die Fee vergeblich auf Nestlings Heimkehr. Längst war die Nacht hereingebrochen, und noch immer war sie allein. Plötzlich klopfte jemand an die Tür und die Fee öffnete. Draußen stand der neidische Bauer.
„Was ist geschehen?“ fragte die Fee ängstlich.
„Ach, im Wald sollen die Räuber einen Jüngling erschlagen haben, und da ist mir eingefallen, es könnte Euer Mann sein. Aber macht Euch deshalb keine -sorgen. Ihr könnt zu mir ziehen. Ihr sollt es gut haben bei mir.“
Als die Fee das hörte, schlug sie dem Bauern die Tür vor der Nase zu. Erst nach einer Weile wagte sie, die Tür zu öffnen. Als sie sich überzeugt hatte, dass der Bauer heimgegangen war, schlüpfte sie in die Nacht hinaus. Sie lief so schnell sie konnte. Schließlich stand sie atemlos vor dem schwarzen Loch in der Erde.
„Nestling, mein Lieber, wo bist du?“ rief die unglückliche Fee.
„Hier bin ich“, ertönte es dumpf aus der Tiefe.
„Fürchte dich nicht, ich werde dir helfen!“ rief die Fee hinab, und ihre schönen Augen vergossen Tränen. In Nestlings Gefängnis fiel ein Seil aus weißen, durchsichtigen Perlen. Das Seil war so stark und fest wie die Liebe der Fee.
Was sollte ich von hier mitnehmen, ich brauche ja nichts, dachte Nestling, als er sich ein letztes Mal in der Höhle umsah. Da fiel sein Blick auf eine strahlende Perle an der Wand. Schnell machte er sie los und kletterte dann an dem Tränenseil hinauf. Oben fielen sich die beiden weinend in die Arme. Glücklich kehrten sie in ihre Hütte zurück.
Sie waren kaum in der Stube, da klopfte es wieder. Draußen stand der neidische Bauer. Als er Nestling gesund und munter vor sich stehen sah, wusste er vor Schreck nicht, was er sagen sollte. „Gerade wollte ich wieder zu dem Loch“, stotterte er schließlich. „Der Strick ist nämlich gerissen und ich musste erst einen neuen holen.“
Da fiel sein Blick auf die strahlende Perle, die Nestling in der Hand hielt.
„Wo hast du diese schöne Perle her?“ fragte er, und seine Augen wurden grün vor Gier.
„Ach, davon gibt es an den Wänden so viele, dass man sie nicht zählen kann“, antwortete die Fee. „Wir haben nur ein kleines Andenken mitgenommen“.
„Lebt wohl, ich muss noch was erledigen“, sagte der Bauer und rannte davon. Natürlich lief er nicht nach Haus, sondern geradewegs in den Wald zu dem schwarzen Loch. Er schaute hinunter. Ach, da hing ja noch das Seil. Und von unten blitzte und funkelte es, dass es einem in die Augen stach. Nichts konnte ihn mehr zurückhalten.
Er kletterte in die Tiefe. Plötzlich spürte er, wie seine Hände nass wurden. Und sah mit Schrecken, wie die weißen Perlen in seinen Händen zu Tränen wurden, und die tropften eine nach der anderen hinab. Krampfhaft hielt der Bauer das Seil fest, doch es schmolz ihm unter den Händen, und er stürzte mit einem Aufschrei in die Tiefe.
Niemand hat ihn seit diesem Ereignis mehr gesehen. Aber auch die Höhle soll niemand mehr gefunden haben.
Aus „Tibetische Märchen“, D. u. M. Stovickova, Verlag Werner Dansien, 1974 Prag, ISBN 3-7684-3470-2
Handlungsschritte:
Status quo: Der arme Nestling und das Hochwasser
Aufbruch: Er plant eine Brücke
Herzensprüfung: Er findet das Ei
Kampf und Sieg: Die Fee erscheint und baut die Brücke fertig
Rückweg: Der böse Bauer lockt Nestling in das Loch
Heimkehr: Die Fee holt ihn mit dem Tränenseil heraus.
Hochzeit: Der Böse verschwindet, das Glück ist vollkommen.
Deutung
Man kann alle drei handelnden Personen als innere Anteile sehen:
Der Nestling: Die zaghafte Überlegung, die schüchterne Tatkraft, Unsicherheit im Entscheiden und Handeln,
Die Fee: Die kraftvolle Bestätigung der Zuversicht
Der böse Bauer: Die eigenen Zweifel, die nagende Unzufriedenheit
Vgl.: Nydgir = der Drache, der an den Wurzeln des (germanischen) Lebensbaumes nagt.
„Wer sich selbst nicht mag, der mag auch Andre nicht!“
Die Brückensteine: Das Bemühen um den Ausbau der Sozialkontakte, die Anerkennung der Anderen.
Hat man sich selber gefunden, (Fee), dann sind die Kontakte nach außen nicht mehr so wichtig. Die Gefahr des gelegentlichen Hochwassers (Einsamkeit) macht den Weg nicht mehr unpassierbar.
Das Loch: Sich plötzlich (unfreiwillig) mit den Ursachen befassen müssen, sich in einem „schwarzen Loch“ wiederfinden:
Schicksalsschlag, burn-out….
Der Schatz: Den inneren Reichtum ent-decken
Die Verlassenheit: Eine theoretische Erkenntnis, die so lange „einsam“ bleibt, bis sie auch das Gemüt erreicht hat.
Das Tränenseil: Konfrontation mit den Ursachen können sehr schmerzlich sein. Das befreiende Zulassen der Emotion ist ein erster Ausweg aus der Sackgasse.
Jedes Abtauchen in die innere Schatzkammer vermindert den Selbstzweifel. Der "böse Bauer" hat keine Angriffsfläche mehr und verschwindet von der Bildfläche.