Text von Barbara Schnepf und
Veronika Schantl-Schnepf
Märchen
1) Allgemeine Überlegungen
Seit eh und je bestand für das Märchen ein großes Allgemeininteresse. Und das ist kein Wunder, ist doch das Märchen diejenige Form von Dichtung mit der der Mensch im Allgemeinen am frühesten in seinem Leben in Berührung kommt.
Auch heute noch sind in unserem Kulturraum Märchen und märchenhafte Geschichten weithin bekannt, obwohl auf die Kinder des 21.Jahrhunderts eine Fülle anderer Einflüsse und nicht nur literarischer Art einströmt. Und dazu, dass fast jeder Mensch mit dieser Form der Dichtung in Berührung kommt haben die Brüder Jakob (1785 – 1863) und Wilhelm (1786 – 1859) Grimm einen enormen Beitrag geleistet. Sind doch die Kinder und Hausmärchen der Brüder Grimm noch immer das nächst der Bibel meistgedruckte und meistübersetzte Buch deutscher Sprache.
2) Märchen sind immer aktuell
Warum üben Märchen auch heute noch, oder soll man sagen, besonders heute wieder, so eine Faszination auf Alt und Jung aus?
Das Märchen bietet sich einfach und heimelig dar. Es stellt keine Anforderungen an den Zuhörer. Das Märchen vermittelt vielmehr Zuversicht, Hoffnung auf die Zukunft und das Vertrauen auf einen glücklichen Ausgang.
Die wahre Bedeutung und Wirkung eines Märchens und seinen Zauber erkennt und empfindet man nur an der Geschichte selbst. Würde man die wesentlichen Züge eines Märchens auch noch so detailliert beschreiben, so kann man so wenig das Gefühl dafür vermitteln, was es damit auf sich hat, genauso, wie wenn man die Handlungselemente eines Gedichtes aufzählte.
Märchen beschreiben die Seelenlandschaft und deuten auf den Entwicklungsweg, den das Menschenkind zu beschreiten hat. Sie sind eher den Träumen verwandt, man könnte sie als kollektive Träume bezeichnen. Versucht man einen Traum zu erzählen, verliert er seinen jenseitigen Glanz. (Bonin S6) [1]
Traumdeutung, einst die Domäne der Priester und Schamanen, wird heute von Psychologen besorgt. Einige Psychologen haben sich auch mit Märchen beschäftigt. Doch Märchen zu deuten, das ist ein zweischneidiges Geschäft. Wie man sie auch dreht und wendet, sie geben ihr Geheimnis nicht wirklich preis. Es ist als wollte man beide Seiten einer Medaille zugleich anschauen. Es erinnert an Chirurgen, die den Körper zerschneiden, um die Seele freizulegen. (Bonin S. 6-7)
Nur die Geschichte selbst ermöglicht eine Würdigung ihrer poetischen Qualitäten und lässt erkennen, welchen Reichtum sie einem empfänglichen Inneren schenkt.
3) Märchen und Mythen
Im Gegensatz zu Mythen – die jeweils die Geschichte eines bestimmten Helden (Theseus, Herakles, Beowulf, Brunhilde...) erzählen – stellt das Märchen klar, dass es von jedermann erzählt, von Menschen die uns ganz ähnlich sind. Mythen und Märchen haben zwar vieles gemeinsam.
Weit mehr als im Märchen wird aber im Mythos der Held dem Hörer als eine Gestalt vorgeführt, der er in seinem eigenen Leben nacheifern sollte. Der Mythos entwickelt sein Thema in majestätischer Weise; er ist von geistiger Kraft erfüllt, das Göttliche ist präsent und zeigt sich in übermenschlichen Helden, die an gewöhnliche Sterbliche große Anforderungen stellen.
Ganz anders im Märchen: Typische Titel sind „Brüderchen und Schwesterchen“, „Die drei Männlein im Walde“, „Das Märchen von einem, der auszog, das Fürchten zu lernen“. Die Protagonisten im Märchen werden als „Mädchen“, als „der jüngste Bruder“ oder ähnlich bezeichnet.
Wenn Namen auftauchen, ist deutliche, dass es nicht Eigennamen, sondern allgemeine oder beschreibende Namen sind. Wir erfahren: „Und weil es da immer in Asche und Staub herumwühlte und schmutzig aussah, gaben sie ihm den Namen Aschenputtel“. Oder: „Einmal schenkte sie ihm ein Käppchen von rotem Samt, und weil ihm das so wohl stand und es nichts anderes mehr tragen wollte, hieß es nur das Rotkäppchen“.
Sogar wenn der Held einen Namen trägt wie in den Hans-Geschichten oder in „Hänsel und Gretel“, sind so gebräuchliche Namen gewählt, dass sie für jeden Jungen und jedes Mädchen stehen.
Dies wird weiter dadurch betont, dass im Märchen auch sonst niemand Namen hat; die Namen der Eltern der Hauptfiguren werden nicht berichtet. Die Eltern werden mit „Vater“, „Mutter“, Stiefmutter“ bezeichnet, wenn sie auch näher beschrieben werden als „armer Fischer“ oder „armer Holzhacker“.
Die Bezeichnungen „König“ und „Königin“ sind durchsichtige Tarnungen für Vater und Mutter, ebenso „Prinz“ und „Prinzessin“ für Junge und Mädchen. Auch Feen und Hexen, Riesen und Stiefmütter erhalten keine Namen; dadurch werden Projektionen und Identifikationen erleichtert. [2] (Bettelheim S 50)
4) Die therapeutische oder erzieherische Wirkung
Die Gestalten im Märchen sind nicht ambivalent, also nicht gut und böse zugleich. Eine Person ist entweder gut oder böse, dumm oder klug, fleißig oder faul, schön oder hässlich, aber nichts dazwischen. Die Darstellung der charakterlichen Polaritäten erleichtert es dem Menschen, den Unterschied zu erfassen.
Die Gestalten sind klar gezeichnet, Einzelheiten werden nur erzählt, wenn sie wichtig sind. Die Charaktere sind nicht einmalig, sondern typisch. Nicht die Tatsache, dass die Tugend am Ende siegt, fördert die Moral, sondern, dass der Held für das Kind am attraktivsten ist.
Im Märchen werden innere Vorgänge zum Ausdruck gebracht; in der Darstellung der Gestalten und Ereignisse werden sie verständlich. Durch die phantastischen Übertreibungen werden Reaktionen begreiflich und annehmbar.
Die Ereignisse im Märchen, die häufig ungewöhnlich und höchst unwahrscheinlich sind, werden stets als etwas dargestellt, das jeder bei einem Spaziergang draußen im Wald erleben könnte.
Selbst die bemerkenswertesten Begegnungen werden im Märchen auf fast beiläufige, alltägliche Weise geschildert. Damit wird die Phantasie angeregt und die Selbstheilungskräfte der Seele werden aktiviert.
Aus diesem Grunde wurde in der traditionellen Hindumedizin dem psychisch Kranken ein Märchen, das sein besonderes Problem verkörperte, zur Meditation empfohlen. Man erwartete, dass der Patient, wenn er über die Geschichte nachsann, sowohl die eigene bedrückende Situation daran messen könne, als auch die Möglichkeiten eines Ausweges erkennen werde.
Aus dem was die Geschichte von menschlicher Verzweiflung, Hoffnung und Überwindung der Notlagen erzählte, konnte er nicht nur die Lösung seines Problems, sondern auch den Weg zur Selbstfindung entdecken – gleich wie der Held der Geschichte.
Die überragende Bedeutung des Märchens für das Wachstum des Menschen liegt aber nicht in der Belehrung über richtige Verhaltensweisen in dieser Welt – dies war Sinn und Inhalt von Religion, Mythen und Fabeln in reichem Maß.
Märchen erheben nicht den Anspruch, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist; sie raten auch nicht, was man unternehmen sollte. Wenn es so wäre, würde der Hindupatient veranlasst, einem aufgezwungenen Verhaltensmuster zu folgen, und das wäre nicht einfach schlechte Therapie, sondern das Gegenteil von Therapie.
Das Märchen ist deshalb therapeutisch, weil der Mensch zu eigenen Lösungen kommt, wenn er darüber nachdenkt, was die Geschichte über ihn und seine inneren Konflikte zu diesem bestimmten Zeitpunkt in seinem Leben enthält.
Der Inhalt des ausgewählten Märchens hat gewöhnlich nichts mit dem äußeren Leben des Patienten zu tun, aber sehr viel mit seinen inneren Problemen, die unverständlich und deshalb unlösbar scheinen.
Das Märchen bezieht sich offenkundig nicht auf die äußere Welt, wenngleich es durchaus realistisch anfangen und mit alltäglichen Ereignissen durchsetzt sein kann. Sein unrealistischer Charakter ist wichtig, gibt er doch zu erkennen, dass sein Anliegen nicht die Vermittlung nützlicher Informationen über die äußere Welt ist, sondern dass es um die inneren Vorgänge im Menschen geht.
Die in den fünfziger Jahren des 20. Jhdt. häufig geäußerte Kritik, Märchen seien aus pädagogischen Gründen abzulehnen, weil sie voll von Grausamkeiten sind, hat sich längst als einseitig und haltlos erwiesen. In den Märchen wird ein existenzielles Dilemma kurz und pointiert festgestellt, niemals wird die Strafe des Bösewichts ausgemalt. Wie schon Bettelheim feststellt, muss das Böse nachhaltig verschwinden.
Eine Begnadigung oder Umstimmung des/der Missetäter stört nicht nur das Gerechtigkeitsempfinden sondern belässt auch die unterschwellige Angst vor einem Zurückkehren oder einer Wiederholungstat. Die ausgestandenen Schwierigkeiten würden dann eben nicht als endgültig überwunden empfunden werden. Damit würde das Märchen einer seiner Hauptbotschaften beraubt.
Märchen belehren nicht über die richtige Verhaltensweise, Märchen erheben nicht den Anspruch, die Welt so zu beschreiben, wie sie ist.
Das Märchen ist deshalb therapeutisch, weil der Zuhörer auf seine eigenen Lösungen kommt, wenn er darüber nachdenkt, was die Geschichte über ihn und seine inneren Konflikte zu diesem bestimmten Zeitpunkt seines Lebens enthält, weil im Märchen innere Vorgänge zum Ausdruck gebracht werden; in der Darstellung der Gestalten und Ereignisse werden sie verständlich. Durch die phantastischen Übertreibungen werden viele Reaktionen begreiflich und annehmbar.
Für ein Kind tritt die Tat an die Stelle des Begreifens, und dies um so mehr, je stärker es empfindet. (Menschen weinen nicht, weil sie traurig sind, sondern sie weinen einfach) Sie schlagen nicht um sich, weil sie wütend sind, sie tun es einfach) Ein Kind erlebt Wut nicht als Wut, sondern als Impuls zum Schlagen, zum Zerstören, zum Verstummen.
Erst in der Pubertät beginnen wir, unsere Emotionen als das zu erkennen, was sie sind, ohne sofort danach zu handeln oder dies zu wünschen. Die unbewussten Vorgänge können für das Kind nur durch Bilder geklärt werden, die direkt sein Unterbewusstsein ansprechen. Die vom Märchen heraufbeschworenen Bilder tun dies.
5) Märchen sprechen in Bildern vom Gelinden des Lebens
Bilder prägen uns, und Bilder vom gelingenden Leben könnten dazu führen, dass wir uns mehr ins Gelingen verlieben als ins Scheitern.
Es ist außergewöhnlich wichtig, dass wir uns den Bildern vom gelingenden Leben öffnen dass wir uns nicht nur den Bildern vom scheiternden Leben aussetzen. Denn eigentlich wollen wir ja nicht das Scheitern des Lebens verhindern, wir möchten vielmehr, dass das Leben gelingt.
Märchen beleben innere Bilder und damit Emotionen, besonders wenn wir sie uns bildhaft vorstellen. Das heißt: Wir sollten Märchen imaginieren. Unsere Vorstellungskraft ist eine wunderbare Ressource, je mehr Vorstellungskraft wir haben, je mehr Phantasie wir entwickeln können, um so weniger sind wir festgelegt in unseren Anschauungen uns um so eher können wir auch etwas verändern in unserem Leben, können wir uns auch wandeln. Das bedeutet, dass die Märchen, wenn wir das Augenmerk auf das Gelingen legen, in uns ganz besonders den Hoffnungsaspekt wecken.[3] (Karst GL S.9 FN1 u. S11 - 12)
Im Märchen gelingt das Leben immer dann, wenn die gerade anstehenden Probleme gelöst werden können. Das bedeutet nicht, dass das Leben danach für immer gelingen wird, aber es gelingt momentan.
In den Märchen kümmern sich Helden und Heldinnen selten um die fernere Zukunft, das Gelingen findet immer im Hier und Jetzt statt.
Das Leben nicht zu verfehlen heißt also in den Märchen, den Schwierigkeiten zu begegnen, die sich gerade aufdrängen und anstehende Entscheidungen zu treffen und Krisen durchzustehen. Es ist zwar keine Garantie für einen nachhaltigen Erfolg im Leben, aber mit der Erfahrung im Hintergrund, dass wir schon beachtliche Schwierigkeiten gelöst haben, gehen wir zukünftige Schwierigkeiten anders an.
Gelingendes Leben meint im Märchen nichts Großartiges – und dennoch etwas großes. Ein Märchenheld oder eine Märchenheldin muss sich voll auf seine oder ihre Aufgabe einlassen, und das heißt, er oder sie muss immer bereit sein, sich einer großen Wandlung zu unterziehen.
6) Entwicklung der eigenen Kräfte
Die Probleme entstehen aus der Sicht des Märchens dadurch, dass das Leben einseitig gelebt wird, dass wichtige Aspekte außer acht gelassen, nicht gelebt, sondern verdrängt wurden.
Die Aufgabe der Märchenheldinnen und Märchenhelden ist es, das, was verdrängt ist ins Leben hereinzuholen und damit auch neue Konstellationen im Unbewussten zu schaffen, die eine Veränderung des Lebens bewirken können.
Der Protagonist oder die Protagonistin macht stellvertretend einen Wandlungsprozess durch – symbolisch gesehen, geht es dabei um Tod und Wiedergeburt .
Der Märchenheld oder die Märchenheldin muss sich ganz auf die Aufgabe konzentrieren, sich voll einlassen, und alles tun was in den eigenen Kräften liegt. Auch alle Kräfte, die in der einseitigen Lebenssituation geweckt worden sind, die sie verlassen haben, werden benötigt.
Es ist keine Lebenssituation so schlecht, dass sie nicht doch auch Kräfte wecken würde, die für die Weiterentwicklung gebraucht werden können. Ganz besonders wichtig scheint zu sein, dass nicht vergessen wird, was einmal gut war im Leben, dass in allen Gefahren und Widrigkeiten die Erinnerung daran bleibt.
Die guten Erfahrungen sind Quellen des Vertrauens und können in der aktuellen Situation hilfreich sein. Das heißt, dass es außerordentlich wichtig ist, sich auch in Situationen des größten Selbstzweifels daran zu erinnern, dass es positive Seiten in einem gibt. (Karst GL S 163-164)
Der Held, die Heldin im Märchen tun, was in der eignen Kraft liegt, und wenn diese erschöpft ist, dann lassen sie sich helfen. (Karst GL S 11)
Alles zu tun, was in der eigenen Macht liegt, und sich helfen zu lassen, wenn es ohne Hilfe nicht weitergeht, offen zu sein für rettende Einfälle, scheint eine wichtige Grundeinstellung für das Leben nicht nur in den Märchen zu sein.
Das erfordert zum einen eine sehr aktive Einstellung dem Leben gegenüber mit viel Mut zur Angst, zum anderen eine kontemplative oder meditative Einstellung, die offen ist für Einfälle. (S164) Gerade in den Märchen, die als gruselig oder schaurig anmuten, wird schon beim Kind dieses krisenhafte Durchleiden der Angst zum Training für eine reale Situation.
Märchenheldinnen und Märchenhelden erklären sich einverstanden mit dem Leben, wie es ist, auch wenn es gelegentlich nicht angenehm ist, sie haben eine Liebe und eine Entschlossenheit auch zu einem schwierigen Schicksal.
Auch wenn man im Märchen zeitweise den Eindruck hat, „Es geht nicht weiter“, so handeln die Protagonisten mit der Einstellung: „Es muss doch einen Weg geben.“ (Karst GL S 164)
7) Schlussfolgerung
Märchenheldinnen und Märchenhelden wehren sich nicht gegen diese Wandlungsprozesse, sie sind also exemplarisch für die Menschen, die sich auf die ewige Wandlung einlassen können, ohne dabei ihre Identität zu verlieren. (Karst GL S161-162) Das Leben wandelt sich immer. Wer mit dieser ständigen Wandlung mitgeht, dem oder der gelingt das Leben. (Karst S 164)
[1] Felix von Bonin: „Kleines Handlexikon der Märchensymbolik“, 2001 Kreuz Verlag, , Stuttgart
[2] Bruno Bettelheim: „Kinder brauchen Märchen“
[3] Verena Kast: „Vom gelingenden Leben“, 2000, dtv: Deutscher Taschenbuch Verlag, München